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Schwarz im Schnee

Die Welt war in Grau getaucht. Die massive Mauer ragte vor mir in den Himmel auf und verschwand im Nebel. Sie war kalt und eintönig. Ich schaute nach rechts, konnte das Ende aber nicht finden. Ich schaute nach Links, aber die Mauer fand kein Ende. Der Nebel behinderte zu sehr meine Sicht. Schneeflocken fielen lautlos vom Himmel herab und landeten sanft auf dem weissen Boden. Ich lief wahllos in eine Richtung los. Meine Schritte gaben keinen Laut von sich und ich schien zu schweben. Etwas Magisches lag in der Luft, doch die graue Mauer riss mich immer wieder aus der Idylle. Sie wirkte fehl am Platz und war wie dahingestellt. Meine Hände strichen an der rauen Oberfläche entlang.
Während meiner Wanderung meinte ich immer wieder, Gestalten in der Ferne zu sehen. Als ich mich ihnen aber näherte, war da nichts als Nebel und Schnee. Keine Bäume und Büsche waren zu sehen. Alles war tot und leblos. Ich vermutete, dass selbst unter dem Schnee kein Gras zu finden sein wird. Obwohl ich ohne Zweifel alleine Weit und Breit war, fühlte ich mich beobachtet.
Die Schneeflocken wurden grösser und der Schnee am Boden wurde mehr. Für das Erste Mal war etwas an der Wand zu sehen. Ich dachte, es waren bloss irgendwelche Kratzer, aber dafür waren sie zu regelmässig. Ich betrachtete die Formen aus grösserer Distanz. Zu sehen waren Kreise und Geraden, Sterne und andere Himmelskörper. Sie liefen ineinander über und vervollständigten sich gegenseitig. Jedes Zeichen war mit höchster Präzision in die Wand eingekerbt worden. Überall waren kleine Verzierungen zu sehen. Trotzdem war es leblos und ohne Farben. Der Stein war alt. Zusammen ergab es ein ganzes Bild, das sich zwanzig Meter über mir aufragte. Wahrscheinlich sollte dies irgendeine Astronomische Darstellung sein. Aber wofür war sie da? Es war Niemand war mehr da, um dieses Werk zu betrachten. Auf mich wirkte die Darstellung abstrakt. Ich liess es hinter mir und setzte meinen Weg fort.

Ich weiss nicht, wie lange ich schon unterwegs bin. Der Schneefall hat sich zu einem regelrechten Schneesturm entwickelt und ich stapfe nun in zwanzig Zentimeter hohem Schnee. Ich wickle mich in meine Kleider so gut es geht, doch der eiskalte Wind beisst an mir. Noch immer ist kein Ender der Mauer zu sehen. Unbeeindruckt vom Sturm steht sie stur da. Auf meinem Weg hierhin lief ich zahlreichen weiteren abstrakten Formen und Strukturen über den Weg. Eine prächtiger und grösser als die Andere. In einigen waren auch teilweise goldige Linien zu sehen. Aber der Zahn der Zeit machte sie farblos und waren meist nicht mehr zu erkennen. Auch die Mauer hat sich verändert. Sie ist jetzt viel dunkler als vorher und die Oberfläche ist nicht mehr so rau. Überall stehen kleine Quader hervor und verleihen dem toten Stein etwas Leben. Aber ich beachte die Mauer gar nicht mehr. Mir ist kalt und meine Kraft neigt sich dem Ende zu. Was tue ich hier überhaupt?
Eine weitere Zeichnung taucht auf. Diese ist aber anders. Sie zeigt keine Planeten oder Sterne. Eine Person ist abgebildet, die etwas in der Hand hält, das ich für ein Schwert halte. Es ist reichlich verziert und zahlreiche goldige Linien umgeben die Waffe. Die Person hält das Schwert senkrecht und betrachtet es. Diese Zeichnung ist deutlich besser erhalten als alle anderen, die ich gesehen habe. Ausserdem leuchtet das Gold förmlich auf der dunklen Mauer. Ein starker Kontrast zu der sonst grauen Umgebung. Die dicken Schneeflocken und der starke Wind behinderten meinen Blick, dennoch erwärmte diesen Anblick ein wenig mein Herz. Mein Blick verliess die Person mit dem Schwert und schweifte in die Höhe, die Mauer hoch. Es schien als würde sie jeden Moment auf mich fallen und mich erdrücken. Kein Ende zu sehen. Ich gehe weiter.

Jeder Schritt wird schwerer. Ich bin am Ende. Die eiskalte Luft gefriert in meinem Hals und jeder Atemzug bereitet mir Schmerzen. Die Zeichnungen an der Wand interessieren mich nicht mehr. Die Mauer ist nun pechschwarz und ein leichter Schimmer glänzt auf der Wand. Es erinnert mich an das Ende der Welt, vielleicht ist es das ja auch. Mein Blick wandert in die Ferne und ich entdecke einen dunklen Umriss einer Person. Sie steht einfach nur und schaut ins Leere. Endlich ein Mensch! Ich wusste ich bin nicht alleine. Ich gehe schneller, doch der Schnee geht nun bis zu meinen Knien. Der Wind peitscht mir ins Gesicht. Meine Beine könen mein Gewicht nicht mehr tragen und ich falle. Schnee überall. Es braucht mehrere Versuche, bis ich mich wieder aufrappeln konnte. Ich schreie, doch die Rufe können die Person nicht erreichen. Noch immer steht sie starr da. Mit all meiner Kraft lege ich die letzten Meter zurück und stehe nun hinter ihr. Ich lege meine Hand auf die Schulter und berühre Stein. Das Gesicht und die Kleider sind aus Stein. Ich stehe vor einer Statue. Sie ist so alt wie alles hier. Auf dem Kopf sammelt sich Schnee. Enttäuscht blicke ich sie sie an. Ein leerer Blick aus den Augen meines Gegenübers ist die Antwort. Verflucht! Das kann nicht sein! Wutentbrannt trete ich gegen die Statue. Ich bin dabei, aufzugeben. Das ist nicht fair! Erschöpft lehne ich mich gegen meine letzte Hoffnung und bemerke, dass sie den Arm ausstreckt und auf etwas zu zeigen scheint. Meine Augen folgen dem ausgestreckten Finger. Durch den vielen Schnee sehe ich einen weiteren Umriss, aber diesmal nicht von einer Person. Es ist ein Baum. Tot jedoch. Der dicke Baumstamm trägt die grosse Baumkrone. Es musste einst mit Sicherheit ein prächtiger Anblick gewesen sein. Aber nun ist er Teil der ausgestorbenen Welt. Seufzend machte ich mich auf den Weg zum Baum. Was habe ich jetzt noch zu verlieren?
Es war kein Blatt auf zu sehen. Der Wind zog durch die Äste, die wie Finger in den Himmel ragen. Das Holz ist von Leben verlassen. Obwohl es kein schöner Anblick ist, freue ich mich, dass es hier trotzdem einmal Pflanzen gegeben hat. Auf der anderen Seite des Baumes finde ich etwas, mit dem ich nicht gerechnet habe: Eine Leiche sitzt rücklings gegen den Stamm gelehnt, als würde sie schlafen. Dieser Mann ist aber schon lange tot, sodass nur noch die Gebeine übrig sind. Kleidungsfetzten hängen immer noch am Skelett. Zumindest habe ich schlussendlich doch noch jemand gefunden. So werde ich auch enden, dachte ich mir. Ich sehe mir die Leiche genauer an. Der Schädel grinst mich an, als fände er irgendetwas an mir lustig. Sein Blick ist gegen die Mauer gerichtet. Ein schwarzes Loch macht sich vor mir auf. Das ist nicht mehr die gleiche Mauer, als ich sie zum ersten Mal sah. Sie strahlt eine Aura aus, die man förmlich greifen kann. Alles scheint in sie hineinzustürzen. Ich fühle Angst. Ich drehe mich wieder zum Skelett um, das immer noch unverändert dasass. Es hält irgendetwas auf dem Schoss. Ich wische den Schnee weg und entdeckte ein Schwert. Der Tote hält jetzt noch seine Hände darauf. Ich nehme es mir und betrachte es. Das Schwert ist lang und leicht. Die Klingen immer noch messerscharf. Ob es wohl jemals benutzt wurde? Es ist keine schöne Waffe, bloss ein Metallstück und einen Griff. Keinen Knauf und keine Verzierungen. Aber dennoch war es blitzblank. Es ist das erste Mal, dass ich so etwas in der Hand halte. Ich streiche mit dem Finger sanft über die Klinge. Und plötzlich wird es warm. Das Metall des Schwertes wird von Wärme erfüllt, das bis in meine Hände übergeht. Blaue Linien schiessen auf der Oberfläche entlang und ich spüre ein leichtes Vibrieren. Es scheint zu leben. Ich weiss nicht, ob ich Angst haben oder es einfach zulassen soll. Als ich gerade dabei war, das Lichtspiel zu betrachten, bekomme ich ein ungutes Gefühl. Ich drehe mich zur Mauer um. Auf der pechschwarzen Wand pulsierte das gleiche Licht in regelmassigen Abständen und formte mit Linien die abstraktesten Formen und Konturen. Alle Linien treffen sich an einem Punkt am Boden und bilden dort einen Kreis. Dort ist das Licht am hellsten. Ich habe das Gefühl, als wolle die Mauer mit mir sprechen. Ich erhebe mich und halte auf die Mauer zu. Neue Kraft erfüllt mich. Ich spüre den Schneesturm kaum noch. Mit jedem Schritt den ich näher komme, wird das Pulsieren stärker. Wie ein riesiges Auge beobachtet mich der Kreis. Er sieht, wie ich durch den Schnee stapfe, bleib jedoch starr an der Mauer. Die Lichter scheinen aus allen Richtungen der Wand zu kommen. Sie kommen aus der Ferne, machen Zick-Zack und Kurven, bis sie in das Zentrum treffen und zu einem Fleck zusammenschmelzen. Ob sie irgendeinem Muster folgen? Manchmal meine ich, Formen zu erkennen, die so schnell verschwinden, wie sie augetaucht sind wenn die Lichtblitze vorbeischiessen. Ich komme der Wand näher. Schwarz füllt mein Blickfeld aus. Ich behalte den funkendeln Lichtkreis im Auge. Er hat einen Durchmesser von mindestens zwanzig Metern und er berührt den Boden. Das Schwert in meiner Hand wird immer wärmer und vibriert mehr. Es scheint zu wollen, dass ich zu Mauer gehe. Ich halte es fest umklammert und lege die letzten Meter zurück. Das Licht blendet mich. Es ist kein schwarz mehr zu sehen. Was jetzt? Zögerlich lege ich meine Hand auf die Mauer. Sie ist kalt. Das blaue Licht ist Teil davon. Aber an einer Stelle ist kein Licht zu sehen. Ein schwarzer Schlitz direkt vor mir. Ich dachte zu erst, dass es Zufall wäre. Aber es ist kein anderer Schwarzer Punkt in der Nähe auszumachen. Es hat einen Grund, dort zu sein. Ich betrachte kurze diese Besonderheit und mir fällt etwas Eigenartiges auf. Ohne lange nachzudenken stecke ich das Schwert in die Öffnung. Es gleitet ohne grossen Widerstan hinein, als ist es genau dafür gedacht. Als ich gerade dachte, es passiert nichts, macht sich ein Spalt auf. Es ist keine wirkliche Öffnung, bloss eine weiss leuchtende Fläche, die sich langsam ausbreitet, mit dem Schwert im Zentrum. Das blaue Licht wird verdrängt und wird vom Weiss verschluckt. Ich strecke meine Hand aus, wollte die Mauer berühren… doch greife stattdessen ins Leere. Ich kann nicht mehr eine Wand vor mir ausmachen. Ein Gefühl sagt mir, dass ich laufen soll. Direkt in die Richtung, wo eigentlich eine Wand sein sollte. Ich machte einen Schritt. Links und recht, das Weiss weitet sich aus, ersetzt die blauen Lichter und die pechschwarze Mauer. Bald ist die ganze Mauer schneeweiss, geht in den Schnee am Boden über. Ich mache noch einen Schritt und dann renne ich. Nichts steht mir im Weg. Der Schneesturm verschwindet, ich spüre keinen beissenden Wind mehr. Der Boden ist weg aber dennoch stehe ich. Ich drehe mich um, wollte zum Baum blicken, sehe aber nur weiss. Ich rannte weiter, ohne zu wissen wohin. Oben und unten ist nicht mehr zu unterscheiden. Die Mauer sollte schon längst hinter mir sein. Mein Körper löst sich auf. Als ich meine Hände betrachten wollte, kann ich sie nicht mehr finden. Es existiert nichts mehr. Kein Licht und kein Schatten, keine Materie. Nur weiss. Als letztes drehen sich auch meine Gedanken nur noch um diese Farbe und werden ebenfalls Teil davon.

Meine Haut fühlt sich warm an. Die Sonne scheint auf mich herab und es weht ein sanfter Wind. Ich schlage die Augen auf und finde mich im Schnee liegen. Jegliche Kraft hat mich verlassen. Ich will nicht aufstehen und blicke stattdessen in den wolkenlosen Himmel. Nach einigen Minuten richte ich mich auf. Kein Unwetter zu sehen. Aber ansonsten hat sich die Umgebung nicht gross verändert. Ich sehe nichts als einen endlosen Horizont aus Schnee. Keine Hügel und keine Berge in Sicht. Lediglich ein grosser und wunderschöner Baum sprengt diesen sonst eintönigen Raum. Seine grünen Blätter stechen in der weissen Umgebung besonders hervor. Ich drehe meinen Kopf nach links und sehe die Mauer, so schwarz wie vorhin. Bin ich jetzt auf der anderen Seite? Habe ich es geschafft? Das Licht der Sonne reflektiert sich auf der glatten Oberfäche wie ein Spiegel. Noch immer kein Ende zu sehen. Sie spielt mit mir. Ich kann nicht mehr. Eine Leere macht sich in mir breit und ich fühle eine unermessliche Müdigkeit. Nicht weit von mir entdecke ich das Schwert. Es ist wieder wie vorhin. Ich bin zu müde um darüber nachzudenken, was hier eigentlich passiert. Ich nehme es in die Hand. Vielleicht ist hier ja irgendwer, der mir alles erklären kann. Mit all meiner Kraft versuche ich, mich aufzurappeln. Ich gehe zum Baum, der nicht weit weg ist. Meine Füsse fühlen sich wie Blei an, mein Kopf dröhnt, und jeder Atemzug ist eine Qual. Als ich beim Baum ankomme, lasse ich mich am Stamm niederfallen. Ich bin am Ende. Ich kann dieser Schnee nicht mehr sehen! Mein Blick wandert abermals zur Mauer. Ich bin mir sicher, dass ich vorhin auf der anderen Seite davon stand. Hier ist alles anders. Die Mauer gibt mir keine Antwort, sondern steht stur da. Ich fühle meine Füsse nicht mehr. Vielleicht werde ich nicht imstande sein, wieder aufzustehen. Aber was ist das? Auf der Mauer sind Zeichen zu sehen. Linien und Kreise, wie sie überall auf der Mauer zu sehen waren. Diese hier waren eingekerbt und das Licht der Sonne machte sie Sichtbar. Alle Linien führen zu einem Punkt und bilden einen grossen Kreis im Zentrum, der reichlich verziert ist. Am Boden davon sehe ich aus der Ferne einen Spalt. Das kann nicht sein! Ich wollte aufstehen, aber mein Körper ist nicht mehr in der Lage. Ich sehe das Schwert auf meinem Schoss noch an, aber auch das gibt mir keine Antwort. Ich versuche nachzudenken, doch meine Augenlieder werden immer schwerer. Ich spüre nichts mehr. Das letzte Licht verlässt mich und ich fühle mich alleine.