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Von Träumen und Drachen

Als die Träume anfingen, wusste ich noch nichts.
Ich hatte es mir an einem Lagerfeuer gemütlich gemacht, mit einer wunderschönen Aussicht auf die zerklüftete Landschaft und den Felssäulen, die sich mehrere hundert Meter in die Höhe streckten. Bei den grösseren befand sich an der Spitze jeweils ein kleines Plateau, mit seinem eigenen kleinen Ökosystem. Hinter dieser Landschaft färbten zwei untergehende Sonnen den Himmel in ein feuriges Rot. Hin und wieder flog eine schwarze Silhouette zwischen den Säulen vorbei und verschwand unter dem Blätterdach des Waldes am Fusse der Felssäulen. Diese Drachen lebten immer noch wild in der Natur, grösser und stärker als die von den Menschen gezüchteten Drachen. Es war wahrhaftig ein fantastischer Anblick, den man sonst nur aus Büchern kannte.
Ich entspannte mich und lehnte mich zurück gegen den schlafenden Novax, einen jungen Drachen, der mich auf meinen Geschäftsreisen begleitete. Ich öffnete die Taschen und ging noch einmal die Ware durch, die ich am Morgen auf dem Stadtmarkt gekauft habe. Ein paar Töpfe, merkwürdige Bücher, exotische Pflanzen, allerlei Gewürze, Trockenfleisch, das übliche eben. Und ein Gläschen mit einer äusserst mysteriösen schimmernden Flüssigkeit, wobei der Verkäufer schwor, sie könne geschmackloses Essen in das vorzüglichste Gericht verwandeln, das man je geniessen konnte. Diese Behauptung musste sich aber erst noch beweisen.
Mit diesen Waren flog ich an das andere Ende der Welt und verkaufte sie für ein klein wenig mehr Geld. Das war mein Lebensunterhalt. Aber ich hatte noch Novax, meinen Drachen. Das klingt zwar ungewöhnlich, aber tatsächlich war es nichts Besonderes, einen Drachen zu besitzen, zumindest nicht hier. Jeder hatte hier einen Drachen, um von A nach B zu gelangen.
Aber ich war nicht von hier. Mit den Drachen bin ich zwar aufgewachsen, selbst mein Vater hatte einen, der nun mein Bruder bekommen hat. Immerhin wurden diese Tiere mehrere Hundert Jahre alt. Die zwei Sonnen am Himmel, Magie und Zauberei waren auch nichts Ungewöhnliches für mich.
Obwohl sich dieses Leben echt anfühlte, habe ich schon weitaus mehr Dinge erlebt als die, die es nur hier gab. Da gab es beispielsweise so genannte «Autos», aber was war das und woher kannte ich diesen Begriff? Ich konnte mir rein gar nichts darunter vorstellen. Wenn ich daran dachte, ist es so als versuchte ich mich an einen lang vergangenen Traum zu erinnern, aber meine Gedanken verwirrten sich stets und es bereitete mir unglaublich Kopfschmerzen. Darum verblasste dieser Traum immer mehr. Aber ich war mir sicher, dass diese Erinnerungen echt waren und nicht einfach eine Fantasie. Ein kleines Detail hatte sich nämlich in meinen Kopf gebrannt, einen Namen. Er erschien mir glasklar und nachvollziehbar, als kannte ich diesen Namen schon seit Ewigkeiten. Stephan.
Vom Lagerfeuer war nur noch eine kleine Flamme übrig und Novax atmete tief und gleichmässig. Ich legte mich in meinen kleinen Unterstand und machte es mir gemütlich. Hin und wieder hörte man durch das Rascheln der Bäume einen Drachen in der Ferne, aber die sollten keine Gefahr für mich darstellen.
Manchmal fühlte ich mich wie in dieses Leben hineingeworfen. Als wären all meine Erinnerungen aus der Kindheit gar nicht echt. Sie mussten aber echt sein, da bin ich mir sicher.
Nun war es aber an der Zeit, sich endlich etwas Ruhe zu gönnen. Ich schloss die Augen und versuchte, meine Gedanken in eine andere Richtung zu lenken. An das Fliegen mit Novax, wie gut es sich immer wieder anfühlt, die Welt aus der Luft zu sehen. An das sich selbst vorlesende Buch, das ich vor einer Weile an einem Markt gekauft habe und an… Warte, was ist dieses Gefühl? Da war etwas in meinem Kopf, nichts weiter als ein flüchtiger Gedanke, der sich zwischen meine Erinnerungen geschoben hatte. Wahrscheinlich war es nichts weiter als meine Müdigkeit, ich sollte… Da war es schon wieder! Das Raumschiff «Dandelion»? Warum kommt mir das bekannt vor?
Ich versuchte meine Augen aufzuschlagen, aber mein Körper reagierte nicht mehr. Es passiert schon wieder. Schnell, ich muss mir alles Wichtige einprägen, meine gekauften Waren, meinen Standort, wo ich als nächstes hingehe, die Uhrzeit, Novax, meine Familie, meinen Vater, Mutter, Bruder, meinen Namen. Nicht Stephan, sondern der Name aus dieser Welt, er lautet, er lautet…

Alles dreht sich, ich habe jegliche Orientierung verloren. Mein Körper fühlt sich taub an, schien mir nicht zu gehorchen, als würde er jemanden anders gehören. Unscharfe Umrisse flitzen an meinem Blickfeld vorbei, ich konnte nichts Klares erkennen. Aus der Ferne rief jemand etwas, aber seine Worte kamen am Dröhnen meines Kopfes nicht vorbei.
Langsam legt sich der Sturm von Schmerz und Übelkeit und ich erkennte den Umriss einer Person über mir. Ich blinzelte, versuchte die Person vor mir zu erkennen. Meine Ohren fingen ebenfalls allmählich wieder an zu funktionieren.
«…dir gut? Alex? Bist du wach?»
Ahh, ich hielt mir die Ohren zu. Es war viel zu laut.
«Ja, es geht mir gut» antwortete ich und hoffte, dass die Person aufhörte zu reden.
Endlich erkannte ich das Gesicht meines Gegenübers, ein etwas älterer Mann um die vierzig Jahre. Etwas erschrocken zuckte ich zurück. Bei der ruckartigen Bewegung drehte sich wieder alles.
«Wer bist du?» fragte ich mit dröhnendem Kopf.
«Hallo, schläfst du etwa noch? Du hast mitten in der Nacht angefangen laut zu stöhnen und zu keuchen, ich dachte du wirst von einem Dämon befallen. Hat sich sehr schmerzhaft angehört und es war laut genug, um mich auch zu wecken.» antwortete der Mann sichtlich genervt und legte sich wieder in sein Bett.
Ich blickte mich um. Der Raum, in dem ich aufgewacht bin, bestand komplett aus Metall. Die Betten, die Wände und Decken, auch der Tisch im Eck war ein fester Bestandteil des Schlafzimmers. Wo bin ich hier? Das ist nicht die Welt, die ich kenne. Aber einen Moment, von woher komme ich eigentlich?
Angestrengt versuchte ich mich zu erinnern. Da war dieser Traum, mit einem Drachen namens Novax… Ja ich erinnere mich wieder.
Durch die offene Tür erstreckte sich ein Korridor, ebenfalls aus Metall. Aber eine Seite war komplett aus Glas und ich spähte genauer durch die Tür. Ein wunderschöner Nachthimmel zog sich über die komplette Länge des Korridors und bot eine gewaltige Aussicht auf Galaxien und Nebel in einem Meer aus unendlich Sternen. Ich konnte es kaum fassen. Ich war auf dem Raumschiff «Dandelion».
Die Realisierung traf mich wie ein Schlag und ich bekam für einen Moment fast keine Luft. Ich erinnerte mich an alles. Mein Name war Alex, momentan auf einer Erkundungsexpedition und auf der Suche nach wertvollen Ressourcen auf Asteroiden. Im Auftrag unserer Weltraumagentur sollten wir mithilfe ein paar Miningbots den ertragsreichsten Asteroiden in einem Sektor ausfindig machen, ihn bis aufs letzte Gramm Erz ausschöpfen und anschliessend wieder zurückkehren. Insgesamt waren wir zu viert auf diesem Schiff.
Ich stand auf und ging in den Korridor hinaus. Ich bemühte mich so leise wie möglich zu gehen, damit ich Dilan, der anscheinend wieder eingeschlafen war, nicht nochmal aufweckte. Der metallische Boden fühlte sich an meinen nackten Füssen warm und geschmeidig an, fast wie ein Holzboden. Das Fenster im Korridor zog sich vom Boden bis an die Decke, man hatte das Gefühl, man schwebe lose im Weltraum. Wie mein Geist.
Was eben passiert ist, nannte ich einen «Weltenumbruch». Es geschah völlig zufällig und ohne irgendwelche Kontrolle. Wenn ich einschlief, konnte es jederzeit dazu kommen, dass ich an einem anderen Ort aufwachte. Besser gesagt, in einer komplett neuen Realität, als eine andere Person in einem unterschiedlichen Alter. Jede Realität war grundlegen unterschiedlich, in einer besass ich magische Kräfte und in einer anderen flog ich in einem schwebenden Gefährt über eine Milliardenstadt irgendwo auf einem fremden Planeten. Es gab keine Regeln und Muster.
Jedes Mal, wenn ich anderswo au aufwachte, fühlte sich alles wie ein Traum an, als sei alles niemals geschehen. Aber die Erinnerungen waren da, und sie fühlen sich echt an. Genau wie dieser Moment, wie ich aus dem Fenster in die Sterne schaute. Ich wusste, dass dieser Moment real war und ich mich nicht in einem Traum befand. Und dieses Gefühl hatte ich auch, nachdem ein Weltenumbruch passierte. Das Raumschiff «Dandelion» war genau so echt und real, wie mein Drache Novax.
Es machte keinen Sinn, sich darüber Gedanken zu machen, welche Realität echt war, weil es alle waren. Ich konnte mich nicht an jede Realität erinnern, irgendwann verschwanden die Erinnerungen daran wie ein vergessener Traum. Nur an die letzte konnte ich mich jeweils gut erinnern, sowie diejenigen, in die mich der Weltenumbruch oft warf. So konnte ich mich beispielsweise immer an Novax erinnern, egal wo ich auch war.
Mein Blick fiel auf einen blauen Kometen, dessen Schweif sich Millionen von Kilometern in die Länge zog. Einen Himmelskörper, der schon so viel gesehen hat, so eine unglaublich lange Strecke zurückgelegt hat, dass es den Verstand eines Menschen bei weitem übersteigt.
Wie viel habe ich schon gelebt? In wie vielen Realitäten war ich schon? Noch nie bin ich aufgewacht und wusste es. Dass ich von hier kam, dass das hier mein echtes Ich war. Oder gibt das gar nicht? Befindet sich mein Verstand auf einer endlosen Reise ohne Start und Ziel? Irgendwann wird der Zeitpunkt kommen, an den der Geist doch zerbricht. So viele Fragen und niemand war hier, um sie mir zu beantworten.
Ich löste mich von dem galaktischen Schauspiel und ging in den Gemeinschaftsraum. Das war es wohl mit dem Schlaf. Als ich in den Raum eintrat, beleuchtete der Bordcomputer den Raum und ein paar Tische tauchten auf. Es war noch viel zu früh, um jemand aus meiner Crew anzutreffen und da ich die Zeit nicht damit verbringen wollte, einfach nur rumzusitzen, ging ich in den Hangar, wo ein kleiner Raumflitzer geparkt war. Damit scannten wir jeweils die Asteroiden, nachdem sie von einer unbemannten Drohne vorinspiziert und als potenziell gewinnerbringend eingestuft wurde. Das menschliche Auge war letztendlich immer noch besser als eine Drohne. Und diese Asteroiden zu inspizieren war genau meine Aufgabe. Die Maschine war nicht sonderlich gross, es hatte nur Platz für eine Person.
Mit einem Knopfdruck öffnete sich das Cockpit mit einem lauten Zischen und ich hüpfte hinein. Um das Raumschiff zu starten war eine Reihe an Knöpfe Drücken und Schalter Umlegen notwendig, aber diese Bewegungen hatten sich schon lange in mein Gedächtnis gebrannt. Nach ein paar Minuten fauchten die Triebwerke und brachte das Metall zum Glühen. Das Hangar Tor öffnete sich träge, begleitet von einem lauten Rattern, das bis in das Cockpit zu spüren war. Als es so weit war, beschleunigte ich den Flitzer und meinen Körper wurde in Sitz gedrückt. Rasant gewann ich an Tempo und die «Dandelion» verkleinerte sich hinter mir, die schwerelos im Raum schwebte.
Ich gab die Koordinaten eines Asteroiden ein, die eine Drohne als würdig erachtete, um von einem Menschen betratet zu werden und wartete, als der Computer die Route berechnete.
Ich betrachtete gerade die eingehenden Daten der Drohne, als mich ein plötzlicher Schwindelanfall überkam. Ich musste einen Brechreiz unterdrücken. Was war das? Ich erholte mich, als bereits der nächste kam, viel stärker als vorhin und diesmal schien er nicht aufzuhören. Ist das bereits der nächste Weltenumbruch? Das kann nicht sein, es vergehen normalerweis Monate bis… Und dann spürte ich, wie mein Geist diesen Körper verliess, wie alles um mich herum sich auflöste und ich davonschwebte, in eine andere Realität.

Ich merkte, wie sich der Sturm um mich langsam legte, als sich mein Geist sich in einer neuen Realität einnistete. Das Gefühl meines neuen Körpers kehrte allmählich zurück und ich konnte meine Umgebung erkennen.
Ich lag im Bett, starrte gegen die Decke. Als ich den Kopf drehen wollte, um mehr zu erkennen, geschah… nichts. Ich konnte meinen Kopf nicht bewegen. Ich wollte meine Beine und Arme bewegen aber nichts geschah. Mein Körper war taub auf meine Befehle, ich konnte nichts machen! Was ist hier los, wo bin ich? Mein Puls erhöhte sich, die Panik überwältigte mich. Ich kann mich nicht bewegen.
Genau in diesem Moment hörte ich, wie eine Tür aufging und jemand hineinkam, aber ich konnte nicht erkennen wer. Ich hörte näherkommende Schritte und nun beugte sich die Person über meinen Kopf in mein Blickfeld. Eine leichte verwunderte Krankenschwester blickte mich an. Ich konnte sie nicht genau erkennen, meine Augen wollten sich nicht fokussieren. Reflexartig wollte ich ihren Arm greifen, sie fragen, was hier vorgeht. Ich wollte den Mund öffnen, schreien, wild mit den Beinen zappeln, aufstehen und wegrennen. Aber mein Körper lag einfach nur da, taub auf all meine Signale, die einfach ins Nichts verschwanden.
«Dein Puls ist etwas erhöht» bemerkte die Krankenschwester. «Ich werde nun deinen täglichen Blutverdünner verabreichen, Stephan»
Nein… Nein, nein, nein! Das darf nicht sein. Das ist es, das bin ich. Ich! Ich bin Stephan! Und dann kamen all die Erinnerungen an mein Leben, meine Familie, meine Freunde und all die gemeinsamen Erinnerungen. Mein echtes Leben. Der Unfall.
Ich war mit dem Fahrrad zur Universität unterwegs, ein Morgen wie jeder andere. Ein kurzer Stopp bei der Bäckerei, die Überquerung der Brücke. Und dann kam das Auto. Das Auto, dessen Rückspiegel mich streifte und aus dem Gleichgewicht brachte. Ich stürzte und schlug mit dem Kopf auf dem Randstein auf. Seitdem befand ich mich in diesem Zustand. Mein Geist lebte in einer lebenden Leiche. Unfähig, zu sprechen, sich zu verständigen.
Die Krankenschwester pikste mich mit einer Spritze und ein plötzlicher Schmerz schoss durch meinen Körper. Ich wollte zucken, aber mein Körper lag regungslos da.
Ich war kein lebendes Wesen mehr. Wie auch, wenn niemand meine Gedanken hört und weiss, was ich brauche. Wenn ich niemanden meine Sorgen erzählen kann und mich tröstet. Wie kann ich mich so als Mensch bezeichnen?
Ich will hier weg! Raus aus diesem Alptraum, so will ich nicht leben. Meine Gedanken wirbelten und wandten sich, versuchten dieser Realität zu entkommen. Das bin nicht ich, das hier ist alles nicht echt! Ich versuchte mich von dieser Realität loszureissen, wie ein Kind, das sich von dem Griff eines unheimlichen Man befreien wollte. All die wiederkehrende Erinnerungen schlug ich ins hinterste Eckchen meines Verstandes, vergrub es, verbrannte es, sodass sie nie mehr zurückkehrten.
Mein Verstand löste sich, schwebte weg in die Dunkelheit. Ich sah, wie sich mein Blickfeld zusammenzog und in die Ferne schoss, wie ich alles Gesehene ausstiess. Und dann spürte ich wieder den warmen Trost der Leere, dort wo die Panik gewesen war. Sie war weg, machte Platz für etwas anderes, für neue Welten, besser als diese Realität, die ich so weit wie möglich wegwarf.
Als der der Name Stephan langsam wieder an Bedeutung verlor, hörte ich die Krankenschwester aus der Ferne fragen: «Weinst du?» Aber ich war schon zu weit weg, um den Gehalt dieser Worte zu verstehen. Auf mich wartet etwas viel Grösseres, viel Schöneres, das noch nie jemand erfahren durfte. Und so liess ich mich von dem Wirbelsturm an Emotionen und Gedanken in die Ferne tragen, so weit weg wie möglich.

Ich hockte auf einem Baum und legte meine Flügel zurecht. Die untergehende Sonne warf ihr letztes Licht des Tages auf die Oberfläche. Dies war ein besonderer Ort, mit unglaublich viel Energie und Wunder. Die letzten Fetzen an Stephans Welt werden bald verloren gegangen sein. Das ist mein neues Leben, meine neue Realität. So vieles werde ich erleben, werde neu Welten und Wunder entdecken während meiner unendlicher Reise durch unendlich Realitäten. Das hier ist echt.
Ich breitete meine Flügel aus, sie glühten und erhellten die Umgebung mit einem schwachen warmen Licht. Ein Flügelschlag, kleine Glutstücke wirbelten umher und dann war ich in der Luft. Mit einem Gefühl der Freiheit flog ich zur rotglühenden Sonne.